Tarifpluralität

Jeder Eingriff in das Streikrecht oder die Koalitionsfreiheit ist ein Einschnitt in die demokratische Grundstruktur unserer Gesellschaft.

Mit der Koalitionsvereinbarung haben die Regierungsparteien ihrem Wunsch zu Einschränkungen der gewerkschaftlichen Koalitionsfreiheit Ausdruck verliehen. Mit dem Entwurf zum Gesetz zur Tarifeinheit, welcher sich weitgehend an dem gemeinsamen Gesetzesvorschlag der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) vom 4. Juni 2010 orientiert, wird klar, wie diese Einschränkungen geregelt werden sollen.

Zukünftig soll in einem Betrieb im Falle von Überschneidungen von Tarifverträgen lediglich jener Geltung erlangen, der von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb abgeschlossen wurde. Die Betrachtung dieses Mehrheitsprinzips soll stichtagsbezogen erfolgen. Die bei der Mehrheitsbetrachtung unterlegene Gewerkschaft soll ein Nachzeichnungsrecht sowie bei Verhandlungen zu neuen Tarifverträgen ein Vortragsrecht erhalten.

Das Gesetz zur erzwungenen Tarifeinheit ist verfassungswidrig und wird zu riesigen Problemen führen. Es heizt den Kampf um Mitglieder an und schürt Konflikte innerhalb der Betriebe. Die rechtliche Unklarheit, wie eine Mehrheit festgestellt werden kann, führt zur Handlungsunfähigkeit aller Gewerkschaften. Die zu erwartenden Gerichtsverfahren lassen jeden Streik zu einem Vabanque-Spiel für die Arbeitnehmer in Deutschland werden.

Tarifautonomie und Streikrecht   
Zwar lässt die Bundesregierung verlauten, dass sie das Streikrecht gar nicht regeln wolle, sie erläutert aber ausdrücklich, dass ein Arbeitskampf nicht der Sicherung der Tarifautonomie dient (und damit rechtswidrig wird), soweit dem Tarifvertrag, der mit ihm erwirkt werden soll, keine ordnende Funktion mehr zukommt. Dies ist der Fall, wenn es sich um den angestrebten Tarifabschluss einer Minderheitsgewerkschaft handelt. Damit wird ein hierauf gerichteter Streik einer Minderheitsgewerkschaft unzulässig, was die grundgesetzlich verankerte Tarifautonomie verletzt.

Streikrecht   
Der Arbeitskampf ist ein Instrument um eine wirksame Tarifregelung zu vereinbaren. Um als Gewerkschaft einen abgrenzbaren Tarifvertrag schließen zu können (auch als „Minderheitsgewerkschaft“ für bestimmte Berufsgruppen), muss auch das Arbeitskampfrecht wahrgenommen werden können. Die Ausdehnung der Friedenspflicht auf die Minderheitsgewerkschaft kommt einem Gewerkschaftsverbot gleich.

Koalitionsfreiheit 
  
Gemäß Artikel 9, Abs. 3 des Grundgesetzes ist die Koalitionsfreiheit für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Mit einer Mehrheitsregelung, die sich am Betrieb ausrichtet, ist die Koalitionsfreiheit für einzelne Berufe, die zahlenmäßig im Betrieb unterliegen, nicht mehr möglich.

Mehrheitsregel   
Eine stichtagsbezogene Auswertung der Mehrheitsverhältnisse bedeutet, dass - selbst bei sich verschiebenden Mehrheitsverhältnissen nach Abschluss des Tarifvertrags - dieser weiterhin gilt, der Tarifvertrag der initial unterlegenen Gewerkschaft also weiterhin nicht zur Anwendung kommt, obwohl sie dann über die Mehrheit verfügt.

Betriebsbegriff
Die Organisation der einzelnen Betriebe obliegt ausschließlich dem Unternehmen. Dadurch können ungeliebte Gewerkschaften bewusst in die Rolle der Minderheitsgewerkschaft gedrängt werden. Darüber hinaus kann die Mehrheitsgewerkschaft im Unternehmen gemeinsam mit diesem die Zusammenlegung von einzelnen Betrieben an den gewünschten Mehrheitsverhältnissen ausrichten.

Als Begründung für die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung wird angeführt, dass die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch Tarifkollisionen beeinträchtigt sei. Sie bürgen die Gefahr, ihrer Aufgabe der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens nicht mehr gerecht werden zu können. Diese Annahme ist falsch.

Verteilungsgerechtigkeit   
Tarifpluralität steht nicht im Widerspruch zu Verteilungsgerechtigkeit. Vielmehr führt die Spezialisierung einzelner Berufsgewerkschaften zu berufsbedingten, oft im gemeinsamen Interesse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern liegenden Regelungen. Damit tragen Berufsgewerkschaften der zunehmenden Spezialisierung der Arbeitswelt Rechnung.

Englische Verhältnisse 
  
Weder gibt es „englische Verhältnisse“ mit sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchenden Gewerkschaften, noch ist eine solche Entwicklung absehbar. Rechtliche und tatsächliche Hürden zur Anerkennung eines Gewerkschaftsstatus sind enorm hoch. Die Voraussetzung der Geschlossenheit innerhalb eines Berufsverbandes oder einer (Teil-)Belegschaft ist angesichts arbeitgeberseitiger Handlungsoptionen ausgesprochen groß. Seit 2010 ist keine einzige neue Gewerkschaft hinzugekommen. Vielmehr sind die Arbeitgeber reihenweise aus ihren Verbänden ausgetreten, um Flächen- und Branchentarifverträge nicht mehr anwenden zu müssen. Sie haben die Diversifizierung vorangetrieben und selber eine Vielzahl neuer Arbeitgeberverbände gegründet.

Deutschland ist ohnehin streikarm   
Deutschland ist in der westlichen Welt eines der Länder mit den geringsten arbeitskampfbedingten Ausfallzeiten, trotz weitgehend fehlender gesetzlicher Regulierung des Tarif- und Arbeitskampfrechts. Gerade die Fachgewerkschaften bringen es auf besonders wenig Streiktage pro Kopf. Auch liegt die Anzahl der Streiktage seit 2010 konstant unter dem langjährigen Durchschnitt.

Regelung führt nicht zur gewünschten Befriedung   
Eine Erstreckung der Friedenspflicht auf parallel anwendbare Tarifverträge ist zur Erreichung einer Arbeitskampfruhe ungeeignet, da voneinander abgegrenzte Tarifverträge weiter zu untereinander unabgestimmten Streiks führen können.
 
Die geplante gesetzliche Regelung zur Tarifeinheit ist nicht nur verfassungswidrig, sie ist auch gänzlich überflüssig, da sie ein Problem zu regeln vorgibt, welches real nicht existiert. Der Gesetzgeber hat nicht das Recht gegen den Willen des Einzelnen festzulegen, wer für ihn Tarifverträge abschließen darf.

Hände weg von der seit Jahrzehnten in Deutschland erfolgreich bestehenden Tarifpluralität. Es gibt keine Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung.

Anzahl der aufgrund von Streiks ausgefallenen Arbeitstagen