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Die VC in der mündlichen Verhandlung über das Luftsicherheitsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht
Das Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG), mittlerweile zum Dauerbrenner in der öffentlichen Diskussion über Sicherheit und Terrorbekämpfung avanciert, beschäftigt die VC schon seit der Vorlage des ministerialen Gesetzesentwurfs.
Die Leser der VC-Info konnten sich in fast jeder Ausgabe darüber informieren. Jetzt ist das Gesetz Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, zu deren mündlicher Verhandlung am 9. November 2005 die VC als sachkundiger Verband beigeladen war.
Rückblick
Das Luftsicherheitsgesetz entstand vor dem Hintergrund einer seit dem 11. September 2001, dem Tag der Terroranschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington D.C., veränderten Bedrohungslage des zivilen Luftverkehrs. Nicht mehr der Angriff gegen ein ziviles Luftfahrzeug und seine Insassen selbst, sei es durch einen Bombenanschlag, sei es durch dessen Entführung zu geiselnehmerisch-erpresserischen Zwecken, stand jetzt im Vordergrund, sondern die reale Gefahr, dass ein solches Flugzeug von Selbstmord-attentätern gekapert und dazu benutzt wird, auf Anschlagsziele am Boden gelenkt zu werden. Der Renegade.
Schnell kam die Frage auf, welche Handlungsmöglichkeiten dem Staat und seinen Sicherheitskräften an die Hand gegeben werden müssen, um sich gegen derartige Angriffe wirkungsvoll schützen und verteidigen zu können. Die Frage wurde in Deutschland schlagartig konkret, als im Januar 2003 ein von einem geistig verwirten Einzeltäter gesteuerter Motorsegler über der Innenstadt von Frankfurt am Main stundenlang kreiste und drohte, sich in eines der Bankenhochhäuser zu stürzen.
Die Antwort hierauf war das Luftsicherheitsgesetz. Das Gesetz bündelte die bis dahin in der luftrechtlichen Gesetzgebung verstreuten Zuständigkeiten und Sicherheitsaufgaben. Gleichzeitig aber wurde die Möglichkeit neu eingeführt, bei besonders schweren Gefahrenlagen auch die Luftstreitkräfte zur Abwehr einsetzen zu können. Umstrittener Kern dieses Maßnahmenkatalogs ist § 14 Abs. 3 LuftSiG, der den Luftstreitkräften – nach Anordnung durch den Bundesminister der Verteidigung – erlaubt, unmittelbar mit Waffengewalt auf ein betroffenes Luftfahrzeug einzuwirken, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll und diese Maßnahme das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist. Faktisch also die Ermächtigung zum Abschuss eines gekaperten Luftfahrzeugs.
Schon im Gesetzgebungsverfahren hatte die VC sich in dieses Thema als anzuhörender Fachverband eingeschaltet. Leider zunächst, ohne hierbei wirklich gehört zu werden – das Thema war in dieser Zeit zu sehr politisch besetzt für Sachargumente. Der Bundestag verabschiedete das Gesetz im Juni 2004 mit den Stimmen von SPD und Bündnis90/Grünen. Die Fraktion von CDU/CSU lehnte das Gesetz ab, weil sie für den in dem Gesetz enthaltenen Einsatz der Bundeswehr im Inneren eine Verfassungsänderung des Art. 35 des Grundgesetzes für erforderlich hielt. Zweifel an der Zulässigkeit eines Abschusses als solchem hatte sie nicht. Lediglich die FDP sprach sich ausdrücklich gegen Abschussmaßnahmen aus.
Das Gesetz wurde durch den Bundespräsidenten – obwohl dieser verfassungsrechtliche Zweifel sah und die VC nochmals mit einer direkten Eingabe Stellung bezog – ausgefertigt und trat am 1. Januar 2005 in Kraft.
Die Verfassungsbeschwerde
Gegen das Luftsicherheitsgesetz und insbesondere gegen die darin enthaltene Befugnis, den Abschuss eines Renegade durch die Luftstreitkräfte anordnen zu können, richtet sich die vor dem Bundesverfassungsgericht anhängige Verfassungsbeschwerde. Be-schwerdeführer sind u. a. Dr. Burkhard Hirsch (FDP), ehemaliger Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen und Vizepräsident des Bundestages, Gerhard Baum (FDP), ehemaliger Bundesminister des Inneren, sowie Hans Albrecht, Flugkapitän bei DBA und Mitglied der VC.
Die Beschwerdeführer rügen, dass durch den Abschuss eines gekaperten Zivilflugzeuges, von dem befürchtet wird, das es gegen Ziele am Boden eingesetzt werden soll, auch mit dem Zweck, durch diese Maßnahme das Leben einer Vielzahl möglicher Opfer am Boden retten zu können, letzten Endes Leben gegen Leben abgewogen wird. Eine solche Abwägung sei aber im Hinblick auf das verfasste Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes – nicht zulässig.
Überhaupt sei es unzulässig, eine derartig verhängnisvolle Maßnahme gegen die unbeteiligten Insassen und Besatzungen des betroffenen Flugzeugs anzuwenden, die selbst ja auch nur Opfer der Entführung und eben nicht verantwortlich seien. Auch sei die Ermächtigungsgrundlage unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zu wenig bestimmt und konkret. Die Zulässigkeit eines Abschusses sei lediglich daran knüpft, dass nach den Umständen davon ausgegangen werden müsse, dass ein Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll und der Abschuss das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr sein könnte. In der mündlichen Verhandlung fasste der Präsident des Bundesverfassungsgerichts vom zuständigen Ersten Senat, Verfassungsrichter Prof. Hans-Jürgen Papier, den Konflikt in einem Satz zusammen: „Darf der Staat Leben gegen Leben abwägen und hierbei selbst unschuldige Menschen töten, um andere Menschen zu retten?“
Die Stellungnahme der VC
Die VC wurde durch das Bundesverfassungsgericht in das Verfahren als sachverständiger Verband eingebunden und erhielt Gelegenheit, sich zu verschiedenen Sach- und Rechtsfragen, die für das Gericht in dem Verfahren von entscheidender Bedeutung waren, zu äußern.
- Wie erfolgen die Tatsachenermittlung und die Feststellung eines Renegade-Falles und wie eindeutig bzw. verlässlich ist diese Feststellung?
- Wie viel Zeit steht zur Verfügung, um auf einen solchen Renegade-Fall zu reagieren, und ist eine angemessene Reaktion, insbesondere ein Abschuss unter Einhaltung der gesetzlich geforderten Anordnung durch den Bundesverteidigungsminister überhaupt möglich?
- Wie verhält sich die Maßnahme des Luftsicherheitsgesetzes zu den internationalen und völkerrechtlichen Vorschriften über die Zivilluftfahrt?
- Wie verhält sich die Maßnahme zum Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit?
Die VC nahm hierzu in einer detaillierten, 18-seitigen Ausarbeitung in Tiefe Stellung. Naturgemäß stand die Beantwortung der Sachfragen dabei im Vordergrund und orientierte sich an fachlichen Einschätzungen, Erkenntnissen über den Ablauf des 11. Septembers und denkbaren Bedrohungsszenarien sowie allgemeinen berufspolitischen Standpunkten und VC-Policies.
Singularität des 11. September
Der 11. September war ein singuläres Ereignis. Die Wiederholung eines solchen Szenarios ist nur schwer vorzustellen. Die Vorbereitungen zu diesem Anschlag dauerten fast drei Jahre und erforderten einen hohen logistischen, organisatorischen und finanziellen Aufwand. Die Attentäter mussten teilweise derart intensiv ausgebildet werden, dass sie grundsätzliche Kenntnisse und Fertigkeiten der Fliegerei und der Bedienung der gekaperten Flugzeugtypen B757 / B767 erlangen konnten. Dabei bestand ständig die Gefahr, verdächtigt oder entdeckt zu werden oder an nicht beeinflussbaren Unwägbarkeiten (bspw. Wetter) zu scheitern. Dass der Terror dagegen seine Ziele viel einfacher, schneller und billiger erreichen aber genauso wirkungsvoll treffen kann, beweisen die zahlreichen „gewöhnlichen“ Bombenanschläge auf U-Bahnen, Nahverkehrszüge und Wirtschafts- und Touristenzentren seitdem (Madrid, Djerba, Bali, Istanbul, London, Sharm-El-Sheik).
Ungeeignet gegen Kleinflugzeuge
Die in der Diskussion immer wieder angeführten Zwischenfälle eines geistig verwirrten Einzeltäters über Frankfurt am Main im Januar 2003 – tatsächlich verweist die Referentenbegründung zum Gesetzesentwurf auf diesen Vorfall – wie auch zuletzt der Fall eines dringend des Mordes an seiner Ehefrau Tatverdächtigen, der sich mit einem Leichtflugzeug auf eine Wiese vor dem Reichstag in Berlin im Juli 2005 zu Tode stürzte, entsprechen nicht dem Schema und Inhalt eines Renegade. Es fehlt zunächst schon der terroristische Hintergrund; tatsächlich handelte es sich bei diesen Fällen um hilflose Amoktaten verwirrter bzw. verzweifelter Einzeltäter. Zudem sind derartige Kleinflugzeuge wegen ihrer geringen Masse und noch geringeren Velozität vollkommen ungeeignet, einen besonders schweren Unglücksfall zu verursachen, wie ihn § 14 Abs. 3 LuftSiG als Tatbestandsvoraussetzung fordert. Auch stünde die Gefahr, dass durch den Abschuss herunterfallende Trümmer wahrscheinlich auch Unbeteiligte am Boden schädigen würden, außer Verhältnis zu der Bedrohung. Hier würde fast im Wortsinn, mit Kanonen auf Spatzen geschossen.
Ein Abschuss wäre in bestimmten Bedrohungsszenarien mit Kleinflugzeugen, insbesondere solche, in den ein Kleinflugzeug eingesetzt wird, um ABC-Gifte (bspw. Anthrax oder radioaktive Stoffe in einer sog. „schmutzigen“ Bombe) freizusetzen, sogar Gefahr erhöhend. Ziel eines solchen Angriffes ist es, derartige Gifte über eine möglichst große Fläche zu verteilen. Bei einem Abschuss aus einer mittleren Flughöhe würde gerade der Abschuss diese Gifte aber genauso freisetzen und ggf. den Verteilungskegel sogar noch vergrößern.
Schwierigkeiten der Erkennung und Feststellung von Renegades
Ein Renegade wird in aller Regel nicht eindeutig festzustellen sein. Es ist unwahrscheinlich, dass die Angreifer ihr Vorhaben oder Ziel frühzeitig mitteilen. Im Gegenteil: Der kriminelle Erfolg eines derartigen Angriffs hängt sicherlich davon ab, dass die Angreifer möglichst lange über ihre Motive täuschen oder sie verschleiern. Selbst wenn der Besatzung noch Zeit bliebe, die Entführung über Funk oder Squawk „7500“ mitzuteilen, ist hierdurch noch nicht eindeutig festzustellen, ob es sich um die Vorstufe zu einem Renegade-Angriff handelt oder um einen „klassischen“ geiselnehmerisch-erpresserischen Hijack.
Äußere Anzeichen allein sind noch weniger eindeutig. Lost Comm allein begründet keinen eindeutigen Hinweis auf einen bevorstehenden Angriff. Derartige Fälle passieren auch im Normalbetrieb – leider viel zu regelmäßig. Allein Maastricht ACC meldete für 2004 in seiner UIR über 160 Fälle. In Deutschland insgesamt wurden in diesem Jahr bis zum Termin der mündlichen Verhandlung 341 Fälle von Lost Comm mit einer Dauer von mehr als 30 Minuten (!) beobachtet. Lost Comm ging allen vom 11. September betroffenen Flugzeugen voran, wurde aber alleine nicht als ausreichender Hinweis auf eine Entführung gedeutet. Flug American Airlines 11, der schließlich als Erster der entführten Flüge in den Nordturm des WTC einschlug, flog 26 Minuten ohne Funkkontakt, bevor die Flugsicherung Alarm schlug.
Treten zu Lost Comm zusätzliche Abweichungen auf – Verlassen von Kurs und / oder Höhe, Wegfall der Transponderkennung – ist ein Luftzwischenfall zwar anzunehmen, aber auch hier die Abgrenzung von einem Unglück, einem technischen Mehrfachversagen oder einem Hijack wohl nicht eindeutig und verlässlich möglich.
Selbst zufällige Hinweise auf eine Flugzeugentführung können nicht automatisch eindeutig zugeordnet werden. Im Falle von Flug United Airlines 93, der schließlich in Pennsylvania zu Absturz gebracht wurde, nachdem ein Teil der Passagiere versuchten die Kontrolle zurückzuerlangen, kam es unbewusst zu einer Sendung durch einen der Angreifer selbst. Er hatte versucht, sich über die Kabinenlautsprecheranlage als Pilot auszugeben und den von ihm eingeleiteten Kurswechsel den Passagieren mit dem Hinweis auf eine angebliche Bombendrohung zu erklären. Dabei verwechselte er die Betätigung des PA mit der des Flugfunks und übertrug einen Teil seiner Ansage im Sprechfunk. Obwohl diese Sendung auf der gerasteten Frequenz übertragen und von der Luftverkehrskontrolle gehört wurde, reichte dieser für sich genommen eben nicht eindeutige Hinweis nicht aus, um sofort auf eine Entführung zu schließen.
Schwierigkeit einer rechtzeitigen Interception
Der Erfolg von Aufklärungseinsätzen und Interceptions ist ungewiss. Er hängt zunächst davon ab, dass überhaupt ein Renegade erkannt oder vermutet wird. Danach muss das verbleibende Zeitfenster ausreichen, um einen verdächtigen Flug anzusteuern und abzufangen. Auch am
11. September wurden zwei F-15 Abfangjäger um 08:41 (Ostküsten-Sommerzeit)
– 28 Minuten nach dem ersten Lost Comm – gestartet. Flug American 11 ereichte sein Anschlagziel aber schon um 08:46. Danach wurden die Jäger zu dem mittlerweile ebenfalls betroffen und nun als entführt vermuteten Flug United Airlines 175 umgeleitet. Dieser erreichte sein Anschlagsziel, den Südturm des WTC, aber um 09:03. Obwohl die Abfangjäger in die Nähe des Flugzeugs kamen, konnten sie keinen Sichtkontakt herstellen.
Ungewiss ist daher, ob eine rechtzeitig eingeleitete Interception überhaupt Sichtkontakt mit einem betroffenen Flugzeug herstellen kann und welche Tatsachen hierbei festgestellt werden können. Wenn bei einem Renegade-Angriff Attentäter eingesetzt werden, die in der Lage sind, das entführte Luftfahrzeug einigermaßen, jedenfalls in dem am 11. September zu beobachtenden Umfang, zu steuern, dann muss vermutet werden, dass diese ggf. auch Flughöhen in Wolkenschichten aufsuchen würden, um sich einer Interception zu entziehen. Es ist fraglich, was dann durch Abfangjäger noch festgestellt werden kann.
Eine Interception kommt ohnehin nur in Betracht, wenn Verdachtsmomente für eine Kaperung vorliegen. Wenn aber gerade deren Verschleierung für den terroristischen Erfolg eines Renegade-Angriffs entscheidend und gleichzeitig ein deutliches Maß an fliegerischen Wissen und Fähigkeiten erforderlich ist, wie sind dann die Chancen, einen Renegade rechtzeitig zu erkennen, wenn nicht ein nur teilweise fliegerisch Ausgebildeter, sondern ein vollständig ausgebildeter oder gar erfahrener Pilot, der mit den Flug- und Navigationsverfahren, dem Flugfunk und den hierfür verwendeten Sprechgruppen vertraut ist und somit nach außen einen ordnungsgemäßen Flug vortäuschen kann, das Flugzeug entführt? Es kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass ein in seiner Persönlichkeit destabilisierter oder radikalisierter Pilot sich einer terroristischen Gruppe und deren Vorhaben zur Verfügung stellt oder hierzu manipulieren lässt.
Der Faktor Zeit
Zeit ist der entscheidende Faktor bei der Erkennung und Abwehr eines Renegade. Am 11. September erreichten drei der gekaperten Flugzeuge ihre Anschlagsziele innerhalb von 21, 33 und 41 Minuten nach der Entführung. Angesichts der relativen Enge des deutschen Luftraums – Deutschland ist für ein turbinengetriebenes Zivilflugzeug kaum größer als 80 Flugminuten – und der Lage möglicher Abflughäfen und Anschlagsziele kann ein Renegade sein Ziel wohl innerhalb von unter 30 bis 50 Minuten erreichen. Das dabei zum Handeln verbleibende Zeitfenster, davon ausgehend, dass die Kaperung nicht sogleich beim Start, sondern im Steig- oder Reiseflug erfolgt und im Idealfall vielleicht nach 5 bis 10 Minuten erkannt worden ist, schrumpft auf durchschnittlich 40 bis unter 20 Minuten.
Verhängnisvolle Maßnahme gegen Unbeteiligte
Der Abschuss eines entführten Passagierflugzeugs richtet sich stets und begriffsnotwendig gegen das Luftfahrzeug als ganzes und damit gegen alle Insassen. Eine solche Maßnahme kann also niemals nur auf den rechtswidrigen Angreifer beschränkt werden. Sie gefährdet nicht nur unbeteiligte Einzelne, sondern sie tötet ganz konkret und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alle unbeteiligten Insassen des betroffenen Flugzeugs, sei es aufgrund der wenig beherrschbaren Waffenwirkung von Maschinenwaffenmunition oder Luftkampfraketen selbst oder spätestens infolge der durch den Beschuss herbeigeführten Flugunfähigkeit oder sofortigen Zerstörung des betroffenen Luftfahrzeugs.
Zusätzliche Gefährdung Unbeteiligter am Boden
Genauso wenig wie die Waffenwirkung selbst sind auch die Folgen eines Abschusses beherrschbar. Das Luftsicherheitsgesetz lässt diese Maßnahme nur zu, wenn sie nicht zu einem Nachteil führt, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht (§ 14 Abs. 2 Satz 3 LuftSiG). Ein Abschuss in großer oder mittlerer Höhe und in der Umgebung oder über einer Großstadt oder einem Ballungsgebiet würde aber verheerenden Schaden anrichten. Bei dem Anschlag auf PAN-AM Flug 103, bei dem 1988 eine B747 durch eine versteckte Bombe in Flugfläche 310 über der 3.500-Einwohner-Ortschaft Lockerbie in einem nur dünn besiedelten Teil Schottlands gesprengt wurde, wurden elf Menschen am Boden getötet und Teile des Ortes schwer zerstört. Insgesamt verteilten sich die Trümmer in einem Korridor von 142 km und auf einer Fläche von fast 2.200 km2. Auf der Grundlage dieser Tatsachen müssen im Falle eines Abschusses aus mittlerer oder großer Höhe erhebliche Schäden für die Bevölkerung am Boden ernsthaft befürchtet werden.
Keine Aufopferungspflicht für Piloten
Ein Abschuss betrifft konkret auch immer die Piloten. Flugzeugführer haben zwar eine erhöhte Gefahrtragungspflicht. Sie sind verantwortlich für das Leben von Passagieren und Besatzungen; von ihnen wird daher verlangt, ihr Wohl und ihre Selbstrettung in gefährlichen Situationen zunächst hinter das Wohl und die Rettung anderer zurückzustellen. Aber eine Gefahrtragungspflicht kann niemals verlangen, das eigene Leben hierfür einzusetzen. Sie kann daher erst Recht nicht dazu verpflichten, die Entscheidung über das eigene Leben durch Dritte hinnehmen zu müssen!
Verbot durch internationales Luftverkehrsrecht
Das Abkommen von Chicago über die Internationale Zivilluftfahrt erlaubt nur das Ansteuern und Abfangen eines unbefugt in den Luftraum einfliegenden oder in der Weise auffälligen Luftfahrzeugs, bei dem Gründe für den Verdacht vorliegen, dass es zu Zwecken benutzt wird, die mit den Befugnissen und Zielen der Zivilluftfahrt unvereinbar sind. Obwohl die Vorschrift Maßnahmen zum Schutz des Hoheitsgebietes eines Staates und zur Wahrnehmung von dessen Staatshoheit damit völkerrechtlich anerkennt, erlaubt sie ausdrücklich nicht einen Abschuss. Die ICAO hatte dieses Verbot bewusst aus Anlass des Unglücks von Flug KAL 007 im Jahre 1983 aufgenommen, bei dem die damalige Sowjetunion in Wahrnehmung ihrer territorialen Integrität eine B747, die aufgrund eines INS Programmierfehlers in den sowjetischen Luftraum über Kamtschatka geraten war, abgeschossen hatte. Bei dem Abschuss starben 269 Menschen.
Unvereinbar mit Grundgesetz und Grundrechten
Die VC ist ein Verband auf dem Boden des Grundgesetzes. Erst die grundrechtlich geschützte Vereinigungsfreiheit erlaubte der VC, sich als Verband zu gründen, genau so, wie erst die verfasste Berufsfreiheit ihren Mitgliedern erlaubte, diesen Beruf frei zu wählen. Die VC sieht sich daher auch für die Wahrung des grundgesetzlichen Rahmens in der Pflicht.
Der Abschuss eines Zivilflugzeugs bedeutet den Einsatz von tödlicher Gewalt gegen das Leben unbeteiligter Insassen. Das soll zulässig sein, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das gekaperte Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist. Hierdurch wird das Leben der Insassen gegen das potenzieller Opfer am Boden abgewogen.
Das Grundgesetz achtet jedoch die Würde des Menschen und dessen Recht auf Leben als gleich und jeden Menschen und dessen Leben als gleichwertig. Es ist daher unzulässig, dass die Verpflichtung des Staates zur Gefahrenabwehr einseitig zur Rechtfertigung eines Abschusses mit der Begründung herangezogen wird, durch die Tötung der unbeteiligten Insassen könne eine Vielzahl von Menschen am Boden wirkungsvoll geschützt werden.
Die Notwendigkeit eines handlungsfähigen Staates steht nicht über dem Grundrechtsschutz. Die staatliche Handlungsfähigkeit dient nur diesem Schutz. Sie ist stets nur Mittel und Zweck, die in dem Staatswesen und seiner Rechtsordnung vereinigten und verfassten Grundsätze und Werte zu garantieren. In dem Moment, in dem sie unbedingt und absolut wird, ist diese Handlungsfähigkeit nur noch leerer Selbstzweck.
Eine freie Gesellschaft bietet immer auch die Angriffsfläche, sich gegen sie zu betätigen. Eine freie Gesellschaft darf und muss sich zwar Angriffen gegen sie erwehren können, aber ihre Wehrhaftigkeit hat immer dort seine Grenze, wo deren Maßnahmen das Wertgefüge, das eben Ausdruck und Wesen ihrer Freiheitlichkeit ist, zu beschädigen drohen. Natürlich ließe sich ein jeder geiselnehmerische Banküberfall auch immer dadurch beenden, dass die Sicherheitskräfte das gesamte Bankgebäude sprengen. Aber gerade diese Rigorosität, die unbeteiligte Dritte im Namen der Verteidigungsbereitschaft der Gesellschaft zu hinnehmbaren Kolateralschäden degradiert, ist in einem freiheitlichen und rechtsstaatlichen Grund- und Wertegefüge und in einem hierauf verpflichteten Staatswesen nicht und erst recht nicht qua lege beständig denkbar.
Die VC vor dem Bundesverfassungsgericht
Die VC wurde in der mündlichen Verhandlung vertreten durch Georg Fongern als Mitglied des Vorstandes, Markus Kirschneck als Pressesprecher und César Eugène Holzem als Mitglied der AG Legal, die die Angelegenheit „Luftsicherheitsgesetz“ maßgeblich bearbeitet und die schriftsätzlichen Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren an den Bundespräsidenten und jetzt im Verfassungsbeschwerdeverfahren vorbereitet hatte. In der Verhandlung äußerte sich Georg Fongern in einer zehnminütigen Ausführung zu den relevanten Gesichtspunkten in tatsächlicher Hinsicht und antwortet dem Senat auf mehrere Nachfragen. César Holzem hielt nach einer fast achtstündigen Verhandlung zu den rechtlichen Fragen gleichsam das Schlussplädoyer für die VC.
Insgesamt waren die Fachkenntnisse und der Sachverstand der VC von allen Beteiligten begrüßt worden. Die Beschwerdeführer und der Senat bezogen sich mehrfach auf die Stellungnahme der VC oder hierdurch aufgeworfene Fragen. Selbst die Beschwerdegegner, Bundestag und Bundesregierung, räumten der VC einen sachdienlichen Beitrag zu dem Verfahren ein und mussten größtenteils die Darstellungen der VC anerkennen. Zeitweise standen die Beiträge der VC in der Mitte der Diskussion.
Obwohl es sich verbietet, den Ausgang des Verfahrens vorweg zu nehmen, überwogen wohl die auch von der VC vertretenen Gründe gegen die Zulässigkeit eines Abschusses von vermeintlich oder tatsächlich gekaperten Zivilflugzeugen. Die Ausführungen der Beschwerdegegner waren teilweise unschlüssig, widersprüchlich und überzeugten insgesamt nur wenig.
Die Darstellungen der VC fanden dabei allgemein und insbesondere auch durch die Presse viel Beachtung und Zustimmung. Mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist im Frühjahr 2006 zu rechnen.
César Eugène Holzem,
AG Legal