Im ersten Teil der Serie (VC-Info 3/2020) hatte ich einige theoretische Grundlagen zu Safety II, insbesondere die Arbeiten von E. Hollnagel sowie aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen der NASA unter J. Holbrook, vorgestellt. Im zweiten Teil (VC-Info 01/2021) wurde anhand einiger Beispiele (LH und NetJets) gezeigt, wie die Erkenntnisse aus Safety II in die Arbeit der Flugsicherheits-abteilungen integriert werden können. Im dritten Teil (VC Info 2/2021) ging es um eine mögliche praktische Einführung und Umsetzung von Safety II im Flugbetrieb – insbesondere auch im Training am Beispiel von American Airlines. In diesem vierten und vorerst letzten Teil soll es noch einmal um die Integration von Safety II in das Training sowie in die tägliche Arbeit gehen. Basis dieses Beitrags sind die Vorträge von S. Shorrock (EUROCONTROL) sowie von C. Horley und N. Spenceley (beide Notfallmediziner).
S. Shorrock beschäftigt sich schon länger intensiv mit Safety II. Er ist einer der Autoren des EUROCONTROL Papier zu Safety II1, hat unzählige Vorträge zu der Thematik gehalten und ist momentan auch Editor-in-Chief des Hindsight Magazine.
Er weist in seinen Artikeln und Vorträgen immer wieder darauf hin, dass es oft große Unterschiede zwischen der tatsächlich geleisteten Arbeit (Arbeit-wie-geleistet - work-as-done) und anderen Formen/Wahrnehmungen von Arbeit gibt. Solche „anderen Formen/Wahrnehmungen von Arbeit“ sind beispielsweise Arbeit-wie-vorgestellt (as-imagined), Arbeit-wie-vorgeschrieben (as-prescribed), Arbeit-wie-analysiert (as-analysed), Arbeit-wie-offengelegt (as-disclosed), Arbeit-wie-beobachtet (as observed), Arbeit-wie-simuliert (as-simulated), Arbeit-wie-gemessen (as-measured) und Arbeit-wie-beurteilt (as-judged) – siehe Abbildung 1. Die Erfassung und Bewertung der verschiedenen Aspekte sind hierbei oft nicht trivial.
Die Unterschiede zwischen der „work as done“ und den anderen Wahrnehmungen von Arbeit können für Problem- oder Schwachstellen im System stehen, die einen zum Teil nicht unerheblichen Einfluss auf Safety haben können. Aus diesen Unterschieden könnten wir etwas für Safety lernen, wenn wir die Unterschiede sichtbar machen. Shorrock empfiehlt dazu das Lernen in Teams und hat vier Tipps für ein erfolgreiches Lernen:
1. Sprechen Sie über den Arbeitsalltag
a) Konzentrieren Sie sich nicht auf seltene Fälle von Misserfolg
b) Machen Sie einen PACT (Kombination auf People, Activities, Contexts und Tools – siehe Abbildung 2), um die gegenwärtige Realität zu verstehen
2. Beginnen Sie mit dem, was stark/gut ist (nicht mit dem, was falsch ist: Gefahren, Risiken, Bedrohungen, Fehler, Irrtümer, Fehler, Verstöße...) Wir haben viele Worte, um Defizite in der Ausführung unserer Arbeit zu beschreiben, aber nur wenige Worte, um positive Dinge zu beschreiben, die wir bei der Ausführung unserer Arbeit zeigen! Aber die Aktiva sind viel präsenter als unsere Defizite - hören Sie auf, sich nur auf die Defizite zu konzentrieren!
3. Finden Sie Wege, um Barrieren zur Verringerung der Unterschied zwischen Work as Done und z.B. Work as Imagined zu überschreiten
a) Viele Probleme sind Barrieren-Probleme
b) Schauen Sie sich die Schnittstellenoptimierung an, da liegt ein Vorteil!
4. Verstehen Sie, was von Teams geleistet werden kann!
Vier Arten der Veränderung (siehe Abbildung 3):
i. TO -> Veränderung geschieht mit uns, aber ohne uns (fühlt sich an wie Gewalt – Medical Model) – Expert/Gapper
ii. FOR -> Veränderung geschieht für uns, aber immer noch ohne uns (Charity-Model) – Expert/Alongsider
iii. MIT -> wir fühlen uns als Teil der Veränderung (Social Model) - Gapper
iv. BY -> wir machen den Wandel für uns selbst (Asset-Based Community) - Alongsider /Animator
Hierzu empfiehlt Shorrock vier Fragen, die häufig im Team gestellt werden sollten:
- Was läuft gut in Ihrer täglichen Arbeit?
a) Was haben Sie gemeinsam geleistet, worauf Sie stolz sind?
b) Was machen Sie was Sie anderen empfehlen würden?
c) Wenn Sie Ihrem jemandem erklären müssten, warum die Dinge generell gut laufen, was würden Sie sagen?
d) Was tun Sie, von dem Sie sich wünschen, dass Sie es früher getan hätten?
- Mit welchen Dilemmas sind Sie konfrontiert?
a) Was macht die Arbeit schwierig?
b) Wie können unterschiedliche Ziele miteinander in Konflikt geraten oder konkurrieren?
c) Welche Kompromisse, Umgehungslösungen oder Gegenleistungen bereiten Ihnen Unbehagen?
d) Was macht es schwierig effektiv zu sein?
- Was wollen/brauchen Sie?
a) Was würden Sie ändern, wenn Sie könnten?
b) Was benötigen Sie, um gute Arbeit zu leisten?
c) Was macht die Tage länger als sie sein müssen?
d) Was würden Sie tun, wenn Sie die Fähigkeit und die Gelegenheit dazu hätten?
- Was sind Sie bereit, anzubieten?
a) Was können Sie anbieten, wenn Sie bekommen, was Sie wollen?
b) Wie könnten wir diesbezüglich übereinkommen?
c) Was können Sie ab sofort anbieten?
d) Was würden Sie tun, wenn Sie die Fähigkeit und die Gelegenheit dazu hätten?
Einen anderen Blick auf Safety II gaben die Ärzte C. Horley und N. Spenceley in ihrem Vortrag „COVID - Creativity, Organization, Variety, Innovation and Design“. Auch in der Medizin sehen Horley und Spenceley großes Potenzial für eine Erhöhung der Sicherheit durch Safety II, da es ebenfalls eine Kluft zwischen „work as done“ und „work as imagined“ gibt. Die Veränderung des dynamischen Zustands ist eine konstante Realität!
Die Realitäten der Mitarbeiter an der Front müssen verstanden werden, um sie sinnvoll unterstützen zu können. Hierzu bedarf es Informationen von der Front, was wiederum eine offene Kultur voraussetzt. Psychologische Sicherheit – mit anderen Worten, eine offene Sicherheitskultur - ist für die Datenerhebung unerlässlich.
Jeder Mitarbeiter im Team hat eine Gabe, Geschicklichkeit oder Leidenschaft, aus denen Erkenntnissen gewonnen werden können, von denen alle profitieren. Ein außerordentlicher Aktivposten im Gesundheitswesen ist hierbei das Pflegepersonal, wie die beiden Mediziner in ihrem Vortrag betonen.
Horley und Spenceley gaben am Schluss noch einige persönliche Gedanken:
- Worte schaffen Welten
- Worauf wir uns konzentrieren, wächst und expandiert
- Wir sind Experten unserer eigenen Erfahrungen
- Das Stellen von Fragen kann eine Intervention an sich sein
- vertraute Dinge in einem neuen Licht sehen
In der abschließenden Diskussion wurde betont, dass Organisationen oder Systeme nicht lernen können – lernen können nur Menschen. Organisationen und Systeme können allerdings den Rahmen für Lernen schaffen. Somit ist eine Thematisierung von Safety II ein wichtiger erster Schritt. Getreu dem Motto des Webinars „Learning from all Operations“ können alle Beteiligten für das Thema sensibilisiert werden um dann im nächsten Schritt entsprechend zu lernen Safety II in ein holistisches Sicherheitskonzept zu integrieren. Hierdurch wird am Ende nicht „Alles gut“ werden, aber deutlich „mehr gut laufen“.
Wir alle können vom Blick über den Tellerrand lernen, vergessen aber manchmal dort hinzuschauen. Um Safety II für die Verbesserung der Flugsicherheit nutzen zu können, ist der Blick über den Tellerrand auf das was gut gelaufen ist und das was andere gut machen ein wesentlicher Schritt.
Dieser Beitrag schließt die Serie zum Thema Safety II ab. Wir freuen uns über jegliches Feedback sowie Anregungen. Die Thematik wir auf jeden Fall im Rahmen der Flight Safety Arbeit der VC weiterverfolgt. Die aktuelle Umfrage „Pilots as a Resource for System Resilience" des europäischen Pilotenverband ECA hat einen klaren Bezug zu Safety II. Wir sind auf die Ergebnisse gespannt.
1www.researchgate.net/publication/282442036_From_Safety-I_to_Safety-II_A_White_Paper_Eurocontrol