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Warum Flugsicherungsfreigaben zu jeder Tageszeit gelten
Ein Passagierflugzeug befindet sich am späten Abend im Anflug auf Leipzig. Die Besatzung kennt den Flughafen kaum, aber informiert sich mit den Flughafeninformationen ihrer Airline. Dort wird unter anderem auf den Luftraum hingewiesen und aufgrund eines möglichen Einflugs in Luftraum E soll möglichst langsam geflogen werden. Die Besatzung brieft den Anflug entsprechend und entscheidet unter FL100 mit 220kts fliegen zu wollen.
Die Fluglotsin in der Anflugkontrolle bereitet sich in der Zwischenzeit auf den jeden Abend bevorstehen- den „Inboundrush“ vor. Dabei plant sie unter anderem eine Anflugreihenfolge. Die Luftraumthematik ist für sie kein besonderer Faktor. In den Lufträumen Delta und Echo dürfen die Flugzeuge zwar maximal 250kts fliegen, da bei Nacht aber kein unbekannter VFR-Ver- kehr auftauchen sollte, gibt es für sie keinen Grund damit zu rechnen, dass langsamer geflogen werden müsste.
Die Besatzung des Passagierflugzeugs liegt gut in ihrem Zeitplan. Ihr sind weder die Verkehrsspitzen des Leipzig-Drehkreuzes bekannt, noch dass sie eine der ersten Maschinen in der Anflugreihenfolge ist. In FL160 wird die Maschine angewiesen die Anflugkontrolle zu kontaktieren. Diese weist die Crew an, die aktuelle Geschwindigkeit von 270kts beizubehalten und unter FL100 mit 250kts zu fliegen. Das ist wichtig, um die Staffelung zu den folgenden Maschinen zu gewährleisten. Die Crew liest die Freigabe korrekt zurück und bereitet alles für den Anflug vor. Anschließend erhält sie einen Direct auf den Endanflug und darf auf die Intercept-Höhe für den ILS-Anflug sinken. Als sich die Maschine FL100 nähert, reduziert der Pilot Flying auf die gebrieften 220kts. Zwischen den beiden Piloten entsteht eine kurze Diskussion über die angewiesenen 250kts, aber sie entscheiden der Firmenanweisung zu folgen. Die Flugsicherung informieren sie nicht.
Die Anfluglotsin ist in dieser Phase erhöhten Verkehrsaufkommens mit vielen verschieden Aufgaben beschäftigt: Vorausplanung, Verkehrsbeobachtung, Sprechfunk, Dokumentation von Freigaben und natürlich der Verkehrsführung selbst. Gerade in der Anflugkontrolle ist das Geschehen sehr dynamisch. Luftfahr- zeuge steigen oder sinken und verändern dabei stetig ihre Geschwindigkeit über Grund. Der Fokus liegt nicht auf einem Luftfahrzeug, sondern auf vielen gleichzeitig und es wird immer wieder jedes Radarziel/-label gescannt. So wird das Reduzieren der Geschwindigkeit zwar irgendwann bemerkt, aber die Auswirkungen sind bereits eingetreten. In der Anflugkontrolle, wo sich viele Luftfahrzeuge auf engem Raum befinden, sind Abweichungen von freigegebenen Geschwindigkeiten besonders kritisch, da die Abstände sehr eng sind. Im genannten Beispiel bedeutet eine Abweichung von 30kts, dass sich das Flugzeug dahinter mit einer Rate von einer halben nautischen Meile pro Minute annähert. Auf dem Endanflug beträgt die Radarmindeststaffelung im Normalfall 3NM und der Puffer ist gering, weshalb solche Annäherungsraten kritisch sind.
Die Besatzung hat mit der Reduzierung unter 250kts gegen die Flugverkehrsfreigabe verstoßen. Dies ist nach EU-Verordnungen VO (EU) 376/2014 i.V.m. DVO (EU) 2015/1018 ein meldepflichtiges Ereignis. Die Fluglotsin kommt dieser auch nach, die Crew meldet es nicht. Solche Berichte sind allerdings wichtig, um systemische Schwachstellen im Luftfahrtsystem zu identifizieren. In diesem Fall ist es z.B. die Diskrepanz in der Wahrnehmung der Besatzung, ob die Empfehlung in den Flughafeninformationen des Arbeitgebers oder die Flugsicherungsanweisung die höhere Priorität hat.
Die Antwort erscheint vielleicht selbsterklärend, doch in der Praxis kommen Abweichungen von Flugsicherungsfreigaben häufiger vor als man denkt. Dabei geht es z.B. oft auch um die konsequente Einhaltung von Sink- oder Steigflugraten. Dabei ist besonders wichtig zu erwähnen, dass es nicht ausreicht eine angewiesene Rate im Durchschnitt einzuhalten, sondern diese schnellstmöglich eingenommen und dann bis zur frei- gegebenen Höhe eingehalten werden muss. Das gilt selbst dann, wenn direkt darunter ein anderer Verkehr erkannt werden sollte. Natürlich haben Besatzungen jederzeit die Möglichkeit eine Anweisung abzulehnen oder zu hinterfragen, wenn es Sicherheitsbedenken gibt.
So hätten die Kollegen in unserem Beispiel frühzeitig darauf hinweisen können, dass sie eine Firmenanweisung haben langsamer zu fliegen. Das gleiche gilt, falls angewiesene Raten nicht eingehalten werden können oder eine andere Flugsicherungsfreigabe nicht (mehr) befolgt werden kann.
Zurück zu unserem Fallbeispiel gibt es neben dem Ziel systemische Schwachstellen im Luftfahrtsystem zu identifizieren und Maßnahmen zu ergreifen, um eine Wiederholung auszuschließen noch eine weitere Verwendung für die Meldungen. Auch diese soll die Wiederholung von Abweichungen verhindern.
Alle Meldungen der Tagesberichtseinträge der Fluglotsen werden durch das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung (BAF) auf mögliche Ordnungswidrigkeiten geprüft und ggf. verfolgt. Im Ordnungswidrigkeitenkatalog gibt es derzeit keine Befreiung von Bußgeldern, wenn die Crew (zusätzlich) selbst gemeldet hat/ hätte – so wie der Gesetzgeber es im Steuerrecht bei Selbstanzeigen verankert hat. Die Just Culture Regelung erstreckt sich derzeit nicht auf Ordnungswidrigkeiten. Der in diesem Artikel beispielhaft vorgestellte Verstoß gegen die Flugverkehrsfreigabe kann daher, im Ermessen des BAF, zu einem Verwarnungs- oder Bußgeld führen.
Kommentar der VC
Liebe Mitglieder,
als Vereinigung Cockpit stehen wir der Nutzung der Tagesberichte der Lotsen zur Einleitung von Ordnungswidrigkeiten kritisch gegenüber. Wir befürchten, dass die geschilderte Vorgehensweise dazu führt, dass die Tagesberichte weniger Inhalte enthalten und damit Daten verloren gehen, die systemische Probleme aufdecken können. Daher haben wir die Problematik beim BMDV adressiert. Über Entwicklungen halten wir Euch diesbezüglich auf dem Laufenden.